Dreiste Nachbarn, ein sehr schön mehrdeutiger und tiefsinniger Artikel in der Rubrik Zwischenrufe von Philipp Meier in der heutigen NZZ. Ich weiss gar nicht, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen war, weiterzulesen, nachdem im ersten Absatz was von Kunstsammlung und Galeristen stand. In der digitalen Version habe ich den Artikel tatsächlich überblättert (wenn man das denn so nennen kann), in der Papierversion dann doch noch gelesen. Überhaupt nehme ich die NZZ in der digitalen Version ganz anders wahr als in der Papierversion. Bei letzterer bin ich konzentrierter dabei. Möglicherweise liegt es am Lesegerät (Tablet vs. Papier).
Hier der vollständige Text:
Ab sofort verkehrte der Sammler in schriftlicher Form mit seinen Galeristen nur noch auf Briefpapier. Er war vorsichtig geworden, denn digitale Kommunikationsmittel waren anfällig auf Bespitzelung. Und bespitzelt wurde er nämlich seit einiger Zeit von seinen Sammlerkollegen. Insbesondere jene in direkter Nachbarschaft spionierten seine Kunstsammlung aus. Es gab auch Erpressungsversuche. Hausgemachte Defizite in ihren eigenen Sammlungen verleiteten diese dazu, unter dem Zaun hindurchzufressen. Jedes Mittel war ihnen dabei recht, den nachbarlichen Anstand traten sie mit Füssen.
Hehlerei etwa war beim Nachbarn auf der Nordseite ein probates Mittel geworden, an Kunst-Inventarlisten des Sammlers heranzukommen. Hinter der westlichen Mauer wollte man plötzlich Abgaben für jene Skulpturen in des Sammlers kleinem Garten einkassieren, die angeblich die Sicht störten. Und der Anrainer im Süden, mit dem man doch ein besonders freundschaftliches Verhältnis zu pflegen glaubte, stellte von einem Tag auf den anderen hohe Bussen aus, wenn der Sammler von seinem Wegrecht durch dessen Park ohne einen Ausweis auf sich Gebrauch machte. Das grosse Sammlertier am anderen Seeufer gar, durch unverhältnismässige Ankaufspolitik zusehends in den Ruin getrieben, liess seine Muskeln spielen: Schläger lauerten dem Sammler auf und bedrohten ihn, damit er Informationen über seine guten Quellen herausrücke.
Beim Sammler gingen eben die besten Leute des Kunstbetriebs ein und aus. Sein Haus stand offen für Künstler jeder Couleur. Sein Erfolg war den Nachbarn aber zunehmend suspekt. Ihre Borniertheit sah in dem polyfonen Kunstbetrieb auf der anderen Seite ihrer Wälle vor allem eine Provokation.
Während ihre Ankaufsbudgets von blasierten Kunstverwaltern in den Sand gesetzt wurden, bewirtschaftete der Sammler mit seinen Künstlerfreunden die eigene Kollektion basisdemokratisch selber. Er hatte die Nase im Wind, organisierte die besten Ausstellungen, und wenn er Verkäufe tätigte, erzielte er die höchsten Preise. Von den Nachbarn aber, welchen die Galeristen und Künstler in Scharen davonliefen, wurde ihm unterstellt, eine Drehscheibe des illegalen Kunst-Tauschgeschäfts zu betreiben.
Im Grunde hätten sie dessen Kunstbesitz am liebsten unter sich aufgeteilt. Um einer solchen Plünderung aber vorzubeugen, beschloss der Sammler eines Tages, sein Haus abzureissen und an dessen Stelle einen Glaspalast zu errichten – um damit für optimale Transparenz zu sorgen.