Chamonna Tuoi

Letzte Woche war ich auf der Wanderroute von Ardez bis nach Guarda auf den Geschmack gekommen, da in der Region wandern zu gehen. Die SAC-Hütte Chamonna Tuoi kann man ganz einfach online reservieren und sieht dann auch gleich, wie die Auslastung ist. Nach meinem Prinzip, möglichst antiyzyklisch zu verreisen, hab ich am Mittwoch für Donnerstagabend reserviert, mit Halbpension. Die Auslastung lag da bei 2 belegten von 40 gesamt verfügbaren Plätzen. Eigentlich hat die Hütte ja 74 Plätze, aber einerseits haben sie wegen Abstandsregeln das Fassungsvolumen reduziert und andererseits liegt die durchschnittliche Auslastung sowieso nur bei 13 Personen, das dazu noch bei sieben Zimmern/Lagern.

Los ging’s am Donnerstag nach einem 08-Uhr-Skypemeeting mit dem Zug um 08:56, via Landquart nach Guarda. Auf dem Weg hab ich noch einige Startups beim Kickstart-Accelerator-Programm bewertet. Da sind echt so einige wüste Kapitalismus-Auswüchse dabei, die aus der Nicht-Problemlösung noch ein Geschäft machen. Aber es gibt auch interessante Ideen dabei, sowas wie Indoor-Farming (nicht für Drogen, wobei es das da schon viel länger gibt) oder virtuelle Energiemärkte.

Im IR13 wurde dann sowohl auf der Hinfahrt als auch auf der Rückfahrt einen Tag später eine Datenerhebung zu Start und Ziel meiner Reise durchgeführt. Meine Antwort “Wil-Guarda” und “Guarda-Wil”. Jetzt hoffe ich, dass da zeitnah in Landquart eine Umspuranlage hinkommt, so dass ich nicht mehr umsteigen muss.

Die Wanderung startet steil, an saftigen und bunten Wiesen vorbei, später wird es flacher und die Landschaft hat nur noch Gras und Steine. Höhenmeter: von 1650 bis 2250m, also weniger als von Jakobsbad auf den Kronberg.

Weil ich im gemütlichen Tempo schon fix oben war und plötzlich ein Schild kam, das “40min bis Chamonna Tuoi” angab, bin ich stattdessen noch nach rechts zum Lai Blau abgebogen. Das gab nochmal gut 500 Höhenmeter extra, aber auf dem Weg dorthin verdunkelte sich der Himmel und es fing an zu hageln. Also Regenjacke angezogen und umgekehrt, auf den Weg zur Hütte. Vorher gab’s schon Murmeltiere und schöne Aussichten, solange es warm und sonnig war.

Auf dem Weg zur Hütte gab es noch Schneefelder, die aber in ein paar Wochen verschwunden sein sollten. Mit den Barfussschuhen waren das die einzigen Stellen, wo ich mich nicht ganz wohlgefühlt habe. Später hab ich auch noch erfahren, dass der Lai Blau sowieso noch zugefroren ist. Na gut, der liegt ja auch ein paar hundert Meter höher als der Lai Raduond von letzter Woche.

Durch den Umweg zum See hatte ich die Hütte erst am späteren Nachmittag erreicht, hab die anderen Anwesenden begrüsst. Hüttenwart C., Hüttenhilfe S., Heinz und Anneliese, B. aus dem Aargau (und ich). Wir waren also zu sechst dort. Das Merkwürdige ist, dass man sich einfach versteht, obwohl man sich gar nicht kennt. Vielleicht machen nur ähnlich tickende Leute solche Touren oder verirren sich in diese Gegend. Heinz und Anneliese waren jenseits des AHV-Alters, er hatte zum 70. von seinem Hüttenwart-Nachfolger ein paar Bergtouren geschenkt bekommen, also waren sie (natürlich, was sonst) die ganze Woche auf der Hütte und haben jeden Tag einen der 3000er in der Nähe bestiegen. Das konnte ich mir so beim Gespräch am Tisch nicht vorstellen, aber geglaubt habe ich das ohne Probleme. Heinz war auch irgendwann mal Schweizer Handballmeister.

B. hatte eine ähnliche kurze Auszeit unter der Woche genommen, weil da ja kaum jemand auf der Hütte ist, und war vermutlich eine Stunde vor mir auf fast derselben Route unterwegs, hatte sogar den gleichen Rucksack und fand auch die Schneefelder recht heikel.

Jedenfalls gab es Punkt 18:30 Uhr Pizzoccheri 😀 Da ich vorher zum Kaffee schon ein ordentliches Stück Nusstorte hatte, war mir später am Abend aufgrund der drei Portionen Pizzoccheri doch etwas unwohl. Aber das lag zumindest nicht an der Höhe wie bei B.

Mein Hut hat gleich mal draussen übernachtet, ist zum Glück nicht weggeflogen, war morgens aber natürlich pitschnass, weil es schon seit dem Abendessen geregnet hatte. Zum Essen gab es viele Hüttenstories, vom aktuellen Hüttenwart und eben auch vom vergangenen, auch über Abstürze an den Felswänden. Aber da hochklettern wollte ich ja eh nicht, der bequeme Wanderweg hat mir gereicht. Die Hütte hat ein eigenes Wasserkraftwerk — augenscheinlich ohne grossen Puffer, weil das Licht dunkler wurde, als der Geschirrspüler geheizt bzw. mal blockiert hat. Das soll aber auch noch neu werden (besserer Generator und andere Wasserfassung). Das Leitungswasser hatte jedenfalls Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.

Für Kinder gibt’s Spiele: drin als Brettspiel, draussen einfach am Wasser, Staudämme bauen, oder Murmeltiere beobachten. Ab 21 Uhr war Nachtruhe, ich hatte noch von Alex Capus ein Buch angefangen. Die anderen haben zu mir rübergeschaut, als ich lachen musste bei folgendem Zitat: “[…] Es gibt verschiedene Doktoren, Marie. Es gibt Doktoren der Naturwissenschaften, die befassen sich mit ihrem Handwerk. Dann gibt es Doktoren der Jurisprudenz, die befassen sich mit ihresgleichen. Und dann gibt es Doctores der Philologie, die befassen sich mit blödem Gequatsche. […]”

Heinz und Anneliese sind um 04:15 zum nächsten Gipfel aufgebrochen. Für die anderen drei Anwesenden gab es um 07 Uhr Frühstück — Gipfel, Butter, Käse, Birchermüesli, Milch, Konfi, reicht eigentlich. Mit dem Kaffee könnte man nochmal schauen, eine Bialetti sollte sich doch machen lassen 🙂

Draussen waren 3°C, die Schneefallgrenze war an den Berghängen gut sichtbar (durch C. geschätzt auf 2500m). Ich hab noch bis 09 Uhr gelesen und bin dann irgendwann talwärts aufgebrochen. Den Lai Blau schaue ich im Sommer mal an. Irgendwann hatte das Handy auch mal wieder Empfang, es hat aber auch ordentlich geregnet. Mir kam noch ein weiterer Wanderer entgegen, der wegen der Blumenwiesen grad im Aufstieg begriffen war. Er hatte den gleichen Hut wie ich, war nur deutlich ausgeblichen (auch der Hut!). Meine Schuhe musste ich ihm auch gleich noch erklären. Fand er gut.

Um 11:37 fuhr ein Postauto ab Guarda cumün zum Bahnhof, das ich auch bequem erreicht habe. 15 Uhr wieder in Wil SG. Regen.

Hörenswert unterwegs: ein halbstündiges Interview mit Martin Meyer von 2014 (ehem. Feuilletonleiter NZZ), https://www.srf.ch/sendungen/kontext/40-jahre-feuilleton-martin-meyer-nzz Ich mag ihn ja, auch wenn er ein Dr. phil ist 🙂 Seine Moderation beim NZZ Podium ist immer wieder legendär: niveauvoll lustig, satirisch und mit intellektuell tiefen Seitenhieben. Letztes Jahr im Dezember war ich auch wieder im Schauspielhaus: https://podium-archiv.nzz.ch/event/freundschaft/ (vorher 2017 schon).